Kinder in der Gemeinschaft

„Wir wissen, dass sie aus einem anderen Daseinsraum kommen,
werden sie beobachten
und viel von ihnen lernen.
Wir werden ihnen Orientierung bieten,
aber wir werden sie nicht bevormunden.
Wir werden darauf achten,
dass sie behutsam überwechseln in einen neuen Daseinsraum
und dabei möglichst wenig vergessen.“

-Sabine Lichtenfels

Ich beginne mit einer sehr konservativen Feststellung: Kinder brauchen eine Person, zu der sie aus vollem Herzen MAMA sagen können, und sie wünschen auch eine andere Person, zu der sie aus vollem Herzen PAPA sagen können. Dies ist eine dem Leben immanente archetypische Struktur, die erfüllt sein sollte, um dem Kind ein gesundes Aufwachsen in angstloser Geborgenheit zu ermöglichen. Das heißt mit anderen Worten: Das Kind braucht stabile Strukturen, stabile Bezugspersonen und ein stabiles heimatliches Nest. Je stabiler dieses Nest, desto sicherer kann es eines Tages in die Welt ziehen und seine Erkundungsgänge unternehmen. Wie ein torkelndes Katzenjunges braucht es die Möglichkeit, danach immer in das stabile Nest zurückzukehren. Diese Feststellung steht im Gegensatz zu der Art und Weise, wie und wo heute Kinder in die Welt gesetzt werden. Die meisten sind heimatlos von Anfang an. Die festen Strukturen, die das Kind braucht, sind heute weder in konservativen noch in liberalen Elternhäusern die Regel. Eltern, deren Liebesleben erloschen ist, können ihren Kindern vielleicht ein stabiles, aber kaum ein warmes Nest bieten.

In funktionierenden Zukunftsgemeinschaften ist das Nest der Kinder nicht auf die Familie beschränkt, denn drumherum gibt es ja eine interessante Gemeinschaft. Kinder, die sich gut beheimatet fühlen, haben eine sehr großzügige Auffassung von Familie. Sie suchen sich manchmal aus purem Vergnügen andere Mütter und Väter, bei denen sie dann eine Zeitlang leben, bis sie vielleicht wieder andere erwählen. Aber das ist normal, wenn Vertrauen besteht zwischen den Erwachsenen, dann vertrauen ihnen auch die Kinder. Kinder vergrößern wie Abenteurer Tag für Tag ihr Terrain und ihre Familie, wenn sie vertrauen dürfen. Die Grundlage für ein gesundes Aufwachsen der Kinder ist das gesunde Zusammenleben der Erwachsenen. Dies ist unter den gesellschaftlichen Bedingungen der alten Matrix schon längst nicht mehr gegeben. Kinder brauchen für ein innerlich gesundes Aufwachsen die menschliche Umgebung einer festen, guten Gemeinschaft.

Kinder sind kosmische Wesen wie wir. Sie kommen nicht als unbeschriebenes Blatt und nicht als süße Babies auf die Welt, sondern als geistig ausgewachsene Wesen mit einer mehr oder weniger langen karmischen Erfahrung. So gesehen wissen wir nicht, ob sie älter oder jünger sind als wir. Das neugeborene Kind, das da vor mir liegt, könnte mein Urgroßvater gewesen sein. Ist es also älter oder jünger als ich? Diese Frage nach dem kalendarischen Alter hat keinen Sinn, wir täten gut daran, uns an dem kosmischen Wesen unserer Kinder zu orientieren und sie nicht künstlich zu verkleinern. Wir können viel von ihnen lernen, wenn wir sie als kosmische Wesen betrachten. Wir können sehen, wie ihre Art der Weltbetrachtung noch mit kosmischen Erinnerungen verbunden ist. Wir erkennen die ungeheure Wachheit, mit der sie manchmal auf bewegte Laubblätter oder ziehende Wolken schauen. Sie sind oft auf einem echten Trip, es täte uns manchmal gut, uns diesem Trip anzuschließen. Wir können damit den inneren Raum leichter wiederfinden, der uns mit dem „Jenseits“ verbindet, aus dem sie kommen. Vieles, was Kinder vor sich hinbabbeln, stammt noch aus den Erfahrungen von „drüben“. Sie haben vieles vergessen, aber sie kennen noch die Aura, die sphärische Energie und das Licht. Sie staunen über das, was sie auf der Erde vorfinden. Wenn wir so neu gucken könnten wie sie, würden uns jeden Tag die Augen aufgehen.

Kinder leben in einem unmittelbaren Kontakt mit allem, was lebt oder was sie für lebendig halten. Sie lernen durch Beobachtung und Anteilnahme. Aber sie haben dabei ihre eigene Art. Sonst könnten sie nicht in zwei Jahren ihre Muttersprache lernen, ohne eine einzige Vokabel zu pauken. Wir müssen verstehen lernen, wie sie das machen, denn hier wird uns eine Lern- und Lebensweise vorgespielt, die eines Tages auch wieder unsere werden könnte, wenn wir unser Leben vom Stress befreit haben werden.

Kinder müssen unbedingt geschützt werden vor zu vielen Kontaktwünschen der Erwachsenen. Sie müssen vor allem geschützt werden vor den viel zu frühen persönlichen Privatbeziehungen, welche die Erwachsenen gerne zu ihnen aufnehmen möchten. Eine Mutter, die zu früh in eine besitzergreifende persönliche Beziehung zu ihrem Kind eintritt, raubt ihm einen Teil seiner Freiheit und bindet das Kind an sich statt an die Welt. Das Kind wird auf den Beziehungswunsch reagieren, es wird fordernd, ungeduldig, quengelnd, erpresserisch. Es wird schreien, aber nicht, weil es Schmerzen hat, sondern aus Wut. Die ganze Welt ist heute voll vom Wutgeschrei der Kinder. Sie alle haben Eltern, die viel zu früh eine persönliche, fast symmetrische Beziehung zu ihren Kindern aufgenommen haben. Auf diesem Wege verlieren Kinder schon früh ihre Vorbilder und Orientierungsmöglichkeiten auf der Erde. Sie brauchen nur zu schreien, und schon sind die Erwachsenen zur Stelle. Diese Art von Überhütung (overprotection) ist Gift für die freie Entwicklung eines Kindes. Wenn das Kind diese Zusammenhänge durchschauen könnte, würde es in ein flehendes Gebet ausbrechen: „Bitte, lauft mir nicht immer hinterher, nur weil ich brülle. Ich brauche keine Hampelmänner. Seid der feste Ankerpunkt, zu dem ich immer zurückkommen kann. Ich brauche euch, ich muss euch vertrauen können. Ich bin ein Kind und brauche Erwachsene, an die ich glauben kann.“ Es ist für viele Eltern, die aus der neueren Szene kommen, schwer, diesen Punkt zu begreifen. Erst mussten sie lernen, alle Autorität abzulegen, und jetzt sollen sie lernen, die richtige Autorität wieder anzunehmen. Ich kann nichts dafür – ja, sie müssen es lernen. Ein Kind braucht die positive Autorität und Orientierungshilfe von Seiten der Erwachsenen, es braucht auch manchmal eine deutliche Absage an seine aufdringlichen Wünsche und ein entschiedenes Nein. (…)

Es gibt viele Mütter, die sich von ihrem zweijährigen Kind nicht mit „Mama“ anreden lassen wollen, sondern mit ihrem Vornamen. Damit rauben sie dem Kind die Mama; sie wissen es nicht, aber sie tun es.

Wenn ein Kind zu früh in die Beziehungswünsche Erwachsener einbezogen wird, verliert es schnell seine kosmische Existenz und Erinnerung. Wenn eine Mutter ihr Kind für sich haben will, geschieht dasselbe wie zwischen Liebespartnern: Das Kind wird eine unbegreifliche Wut auf die Mutter entwickeln, es wird irgendwann als Krieger in die Welt ziehen und die Göttin bekämpfen. Das Kind muss geschützt werden vor der emotionellen Zudringlichkeit Erwachsener. Meistens sind es die Eltern selbst, denen diese Erkenntnis am schwersten fällt. Noch eine weitere Tatsache fällt ihnen schwer: dass das Kind niemandem gehört, auch nicht den Eltern. Das Kind hat sich ein bestimmtes Elternhaus ausgesucht, um einen bestimmten Lebensplan zu verwirklichen und nicht, um diesen Eltern zu gehören.

Man kann ein Kind nicht für sich einfangen, weder durch Überhütung, noch durch das Überangebot von Geschenken und Konsum. Ein Kind wird darauf irgendwann mit Hass reagieren. Der hemmungslose Konsumismus, mit dem Kinder unserer Konsumgesellschaften auch von relativ intelligenten Eltern abgefüttert werden, entfernt sie brutal von ihrer Quelle und macht sie zu immer haben-wollenden Monstern, die sich eines Tages für diesen Betrug rächen werden. Wer als Kind statt Liebe Schokolade bekommt, und das immer wieder, kann nicht anders, als im Inneren böse und zynisch zu werden. Diese Kinder entwickeln sich dann zu Erwachsenen, die ihre Liebespartner belügen und erpressen, weil sie nicht mehr an die Liebe glauben können. Die Eltern dieser Kinder, die selbst meistens in der antiautoritären Bewegung groß wurden, haben einen großen Lebenstraum verloren, denn die Bewegung hat ihre Ziele nicht erreichen können. Jetzt geben sie ihre Resignation an die Kinder weiter. Die Kinder merken, daß ihre Eltern keinen Traum mehr haben und kein Ziel mehr kennen. Woran sollen sie noch glauben, wenn ihre Eltern an nichts mehr glauben?

Das ist die Situation des Kindes in der heutigen Gesellschaft. Ich habe sie vielleicht etwas zu milde beschrieben, denn es handelt sich um eine der Basistragödien unserer Zeit. Viele Eltern sind verzweifelt und wissen nicht weiter. Die heilige Matrix hat für das Aufwachsen der Kinder eine vollkommen andere Situation vorgesehen. Wir finden sie gründlich beschrieben in Sabine Lichtenfels’ „Traumsteinen“. Die Kinder leben in der Gemeinschaft. Die ganze Gemeinschaft trägt Mitverantwortung für die Kinder. Es gibt zwischen Eltern und Kindern keinerlei Eigentumsrechte. Die Gemeinschaft bildet eine Art von Kreis, in dem die Kinder einen großen Teil für sich haben. Dort befindet sich – in heutigen Worten – die „Kinderrepublik“. Diese relativ eigenständige Kinderabteilung war ein wesentliches Element in vielen höherentwickelten Kulturen. Wir haben sie in der modernen Literatur wiedergefunden durch die Berichte über das (inzwischen aufgelöste) indische Volk der Muria. Dort lebten die Kinder und Jugendlichen in ihrem eigenen Dorf, dem „Ghotul“, sie gaben sich ihre eigenen Lebensregeln und ihre eigene Sexualordnung. In der Zeit des Steinkreises von Évora gab es keine festen Familienzugehörigkeiten, aber eine feste Einbettung in den Stamm und eine feste Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersgruppe. Die Altersgruppen lernten es, sich auf ihre Weise mit den Naturwesen zu verbinden und ihre Forschungen zu betreiben. Unter der Anleitung Erwachsener lernten sie grundlegende Dinge über die Pflanzenwelt und Tierwelt, über Heilpflanzen und Mondrhythmen, über Erdkunde und Himmelskunde, Geomantie und Astronomie. Sie wussten relativ früh, was die Ameisenstraßen bedeuten, wann sie entstehen und wie sie mit dem Wetter zusammenhängen. Sie konnten früh mit Tieren sprechen und Pflanzen befragen, ob sie heilend wirken. Auch unsere heutigen Kinder zeigen in dieser Richtung noch erstaunliche Fähigkeiten, wenn wir sie nicht hindern. Das Wissen, das sich diese frühen Menschen erworben haben, steckt in uns allen.

Unsere Kinder sind die Träger der neuen Kultur. Ich habe erlebt, welches Glück sie in dem Moment spüren, wenn sie ihre Eltern neu entdecken, wenn sie uns wieder lieben, den Erwachsenen wieder glauben, den Autoritäten wieder vertrauen können. Sie lieben die Welt, in der Eltern wieder Eltern, Erwachsene wieder Erwachsene, Vorbilder wieder Vorbilder sind. Sie lieben es, wenn sie die Erwachsenen fragen können und eine sinnvolle Antwort oder Hilfe erhalten. Sie tun alles, um der Erde, der Natur, den Pflanzen und Tieren zu helfen, wenn wir ihnen unser Wissen zur Verfügung stellen, ohne sie zu bevormunden. Sie sind kosmische Wesen und haben die Fähigkeit, ungeheuer schnell zu lernen. Vielleicht kommen einige von uns als Neugeborene wieder auf die Erde, wenn sie, unsere heutigen Kinder, alt und weise geworden sind. Vielleicht sind wir dann ihre Enkel und lauschen andachtsvoll ihren Worten … Es sind so unglaublich schöne Wesen dabei.

Dies ist ein Auszug aus dem Buch von Dieter Duhm: „Die heilige Matrix: Von der Matrix der Gewalt zur Matrix des Lebens“

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