Global Grace Day, 9. November 2018: Von der Angst zum Vertrauen

Seit 2005 feiern wir am geschichtsträchtigen 9. November den „Global Grace Day“: ein Tag für die Öffnung der inneren und äußeren Mauern, der Versöhnung, Heilung und Visionsbildung für eine gewaltfreie Welt. Wir laden euch ein, euch mit uns an diesem Tag im Gebet zu verbinden. Dieses Jahr steht der Global Grace Day im Zeichen des 80. Jahrestags der Reichskristallnacht in Deutschland und dem 100. Jahrestag des Ende des Ersten Weltkriegs. Wir widmen ihm der Heilung der Liebe – der Heilung derjenigen inneren Strukturen, durch wir Faschismus und Krieg nachhaltig und strukturell überwinden können.

Von Sabine Lichtenfels, 25. Oktober 2018

 

 

Der 9. November: Ein Tag von Gewalt und Sehnsucht nach Freiheit

Der 9. November ist ein historisches Datum auf vielen Ebenen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, der Reichspogromnacht, erfolgte der erste große Schlag der Nazis auf die deutschen Juden. Hunderte von Synagogen wurden in Brand gesteckt, viele jüdische Bürger wurden ermordet und mehr als 30.000 von ihnen in Konzentrationslager verschleppt.

Gleichzeitig ist der 9. November auch ein Tag der Revolution in Deutschland. Vor hundert Jahren, am 9. November 1918, kam die Novemberrevolution zu ihrem Höhepunkt, in dem der letzte deutsche Kaiser abdankten musste und Karl Liebknecht die sozialistische Republik ausrief. Am 9. November 1989 fiel nach wochenlangen Protesten in der damaligen DDR die Berliner Mauer. „Der Revolution im Osten muss jetzt die Revolution im Westen folgen,“ so hieß die Überschrift eines Flugblattes, das wir damals in Berlin verteilten.

Gleichzeitig verbinden wir uns mit einem anderen bedeutenden Jahrestag: Am 11. November 1918 – auch vor 100 Jahren – ging der Erste Weltkrieg zu Ende. Dem Krieg, der angeblich „alle Kriege beendete“ („War to End All Wars“), fielen 20 Millionen Menschen zum Opfer und er wurde der Startpunkt einer Ära andauernder industrieller Kriegsführung weltweit – von Verdun bis Mai Lai und Aleppo.

Wie überwinden wir Krieg und Gewalt?

Die menschliche Sehnsucht nach einer wahren gewaltfreien Revolution, nach Frieden, Freiheit, Würde und Solidarität hat sich bis heute noch nicht erfüllt. Zu tief ist das menschheitliche Trauma, zu mächtig hat sich das imperiale System durchsetzen können. Zu undurchschaut und unaufgeklärt blieben die wahren Hintergründe des Faschismus und die tieferen menschlichen Gründe dafür, dass Grausamkeit ganze Gesellschaftssysteme bestimmen konnte. Als wir in unserer Freude am Tag der Maueröffnung unsere Flugblätter verteilten, wussten wir noch nicht, wie tief der Systemwechsel wirklich sein muss, um zum Erfolg zu führen. Alle Systeme, ob Kapitalismus, Kommunismus oder Sozialismus, scheitern an den untergründigen menschlichen Strukturen der Angst, die wie ein subtiles Nervensystem alle patriarchalen Gesellschaften durchziehen.

Weltweit spitzen sich die Krisen zu und führen verstärkt zu Diktatur und faschistischer Massenhypnose. Es war auch ein 9. November (2016), an dem Donald Trump seinen Wahlsieg feierte und damit eine Welle der Erschütterung in vielen Menschen auslöste. Auch in Brasilien, der Türkei, in den USA, Ungarn, Philippinen und vielen anderen Ländern kommen autoritäre Herrscher zu enormen Erfolgen – und die Welt sieht ratlos zu, während Flüchtlingskinder deportiert, Minderheiten verfolgt und Dissidenten verhaftet und ermordet werden.

In vielen Ländern formen sich mutige Bewegungen, die gewaltfreien Widerstand leisten. Doch so lange wir die untergründigen psychischen und sozialen Strukturen nicht erkennen und ändern, die ganze Völker den Befehlen autoritärer Führer folgen lassen; solange wir die unbewältigten sexuellen und psychologischen Konflikte nicht kennen, die zu dieser Machtübernahme führen konnten, bleiben wir Opfer und Mittäter eines Systems der Zerstörung. Unsere westliche Kultur  verwehrt Flüchtlingen und MigrantInnen die Aufnahme, während deren Heimatländer durch Waffen, systematische Verarmung und Ressourcenausbeutung zerstört werden, die in unseren Ländern verursacht werden. Keine historische Revolution war bis heute in der Lage, dieses globale System der Gewalt zu beenden.

Was ist der Global Grace Day?

Der 9. November ist für uns zu einem regelmäßigen Gedenk- und Aktionstag geworden. Er ist Mahnung an den ungelösten traumatischen Knoten der Menschheit, der in faschistische Strukturen führte. Er ist aber gleichzeitig ein Tag der Hoffnung für eine gewaltfreie Revolution. 2005 leiteten Benjamin von Mendelssohn und ich eine Pilgerschaft durch Israel-Palästina. Wir saßen auf dieser Pilgerschaft zusammen mit Israelis, Internationalen und Palästinensern eine Nacht lang schweigend vor der heutigen israelischen Mauer. Es war eine Mahnwache, die darauf aufmerksam machte, dass die historische Wunde, die mit der Judenverfolgung in Deutschland begann, bis heute nicht geheilt ist. Anschließend pilgerte eine Gruppe von ca. 50 Personen unter dem Motto „Wir weigern uns Feinde zu sein“ durch die Westbank. Seitdem nennen wir diesen Tag den Global Grace Day. Wir wollen unsere Verbundenheit mit den Wunden der Geschichte und unseren Willen zu ihrer potentiellen Heilung zeigen.

„Und sie erkannten sich“

In diesem Herbst reisen Benjamin von Mendelssohn und ich durch Deutschland und die Schweiz, um das neue Buch „Und sie erkannten sich. Das Ende der sexuellen Gewalt“ von Dieter Duhm und mir der Öffentlichkeit vorzustellen (Überblick über unsere Veranstaltungen hier). In unserer Wahrnehmung sind diese Themen tief verbunden: Wahrheit in der Liebe, Versöhnung der Geschlechter, Heilung des erotischen Verlangens stehen im verborgenen Zentrum einer globalen Transformation.

Dieter Duhm benennt in dem Buch den Zusammenhang zwischen dem globalen Kriegsgeschehen und dem intimsten Bereich des menschlichen Lebens: „Kann das ernst gemeint sein: Befreiung der (sexuellen und seelischen) Liebe als Voraussetzung für einen globalen Frieden? Wir wissen, wie ideologisch solche Aussagen klingen für viele Zeitgenossen. Trotzdem: Die Umweltkrise ist die Folge der Inweltkrise.“

Und aus meinem Buchteil: „Die Inweltkrise hat ihren Kern in einem immerwährenden Liebeskummer, der bis heute die Menschenwelt bestimmt und durchdringt, jedes Büro, jedes Parlament, jede Familie. Doch wie durch ein Wunder versiegte die sinnliche Liebe nie ganz. Auf einer Ebene ist die Antwort auf das Elend unserer Zeit sehr einfach: Sie besteht darin, aus der Hypnose der patriarchalen Epoche zu erwachen und die Grundtatsache des Lebens wieder anzunehmen.“

Meditation und Visionsbildung für eine geheilte Erde am 9. November

Im Jahr 2007 empfing ich den folgenden Text in einer Morgenmeditation in den hohen Bergen im Sinai in der Nähe des Berg Mose. Wir möchten dieses Gebet auch dieses Jahr nutzen, da am 9. November von diesem besonderen Ort aus eine Friedensbotschaft um die Welt gehen wird. Wir laden euch ein, euch am 9. November, wo immer ihr seid, mit euren Gruppen, Gemeinschaften, FreundInnen oder auch allein der Meditation und Visionsbildung für eine geheilte Erde anzuschließen:

„Wo Schmerz war, soll Heilung erwachen.

Wo Wut war, soll verändernde Kraft entstehen.

Wo Angst war, soll Schutz und Vertrauen entstehen.

Wo Feindschaft war, soll das große Erwachen der gegenseitigen Anteilnahme beginnen.

Wo Unterdrückung geschah, soll die große Freiheit einziehen.

Wo Völkertrennung geschah, soll die Anteilnahme an diesem Planeten Erde zu einer gemeinsamen verantwortlichen Schau führen.

Wir sind gekommen, um zu erinnern:

Wenn wir wollen, dass dieser Planet Erde überlebt, müssen alle Mauern der Trennung fallen,

die Mauern zwischen Völkern, zwischen Israel und Palästina, zwischen Europa und Afrika, zwischen der sogenannten ersten und dritten Welt.

Und ebenso die Mauern, die wir im eigenen Inneren errichtet haben, die Mauern zwischen den Geschlechtern und die Mauern zwischen Menschen und aller Kreatur.

Wir sind gekommen, um an die ursprünglicher Schönheit und Wahrheit des Lebens zu erinnern:

Alles Leben hat ein Recht auf Freiheit und Entfaltung,

ein Recht auf Liebe, auf Wahrheit und Vertrauen.

Lasst uns Beispiele setzen für die Überwindung der Gewalt, wo immer wir sind.

Lasst uns so für das Leben und die Liebe eintreten, dass die Angst verschwinden kann auf dieser Erde.

Lasst uns weltweit einen Ring der Kraft bilden für den Schutz aller Kreatur.“

 

Meditationstext als PDF herunterladen: DeutschEnglisch – SpanischPortugiesisch

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