Gewaltlosigkeit: Versuch einer Antwort
Dieter Duhm, 1981
I.
Ich war etwa 14, als ich zum ersten Mal von Konzentrationslagern hörte. Es war eine Information aus dem Geschichtsunterricht, sie wurde mein Startsignal. Ich hatte immer Angst vor Gewalt. Im Jahr 1948 – ich war kaum sechs Jahre alt – geriet ich in einem Dorf am Bodensee in ein Massaker, das einheimische Schuljungen, aufgehetzt von ihren Eltern, an eingewanderten Flüchtlingskindern begingen. Ich war auch Flüchtling und verließ die Szene mit deutlichen Veränderungen. Sie hatten mich geschlagen und dann von oben bis unten mit Teer bestrichen, “damit die Wunden besser heilen”. Ein paar Tage später banden sie mich an eine Telegrafenstange und bewarfen mich mit Pferdeäpfeln. So wurde ich eingeweiht in die Psychologie des Menschen. Als ich dann mit 14 erfuhr, was in den Konzentrationslagern begangen worden war, wollte ich nichts davon glauben. Ich wehrte mich mit allen geistigen Waffen, die mir zur Verfügung standen, habe versucht, mir einzureden, daß die Opfer in Wirklichkeit Verbrecher waren… oder daß Erwachsene vielleicht nicht so leiden unter dem Schmerz. Dann fing ich an, meine Eltern und ihren Bekanntenkreis auszufragen. Ich muß ihnen ziemlich auf die Nerven gegangen sein. Meine Hoffnung, etwas Tröstliches, Milderndes, Schmerzlinderndes zu erfahren, zerrann mit zunehmender Recherche. Es gab keine Tröstung. Auschwitz: das war die Wirklichkeit, jedenfalls ein unausrottbarer Teil von ihr. Es blieb eine letzte Hoffnung: das war vielleicht die Wirklichkeit, ist sie aber nicht mehr. Die Hoffnung verging. Ich sah – 10 Jahre später – die Fotos von vietnamesischen Frauen mit abgeschnittenen Brüsten. Ich sah die Bilder von Napalmverbrannten. Ich sah die Kehrseite der abendländischen Moral und Kultur. Dann kam die Zeit der untergehenden Studentenbewegung und der linken Fraktionskämpfe. Die KPD/ML trug Stalin-Plakate. Ich erlebte in Mannheim den Tod eines angeblichen Spitzels. Ich erlebte die Tyrannei der politischen Doktrin gegen jede “Sentimentalität”. Ich erlebte die Inhumanität einer politischen Praxis, die die inneren Strukturen des Systems, das sie bekämpfte, in sich nicht überwunden hatte. Ich begriff die elementarste Grundtatsache des politischen Lebens: die ideologischen Bekenntnisse sind austauschbar, solange die inneren Strukturen dieselben sind. Strukturen der Verdrängung. Strukturen der Gewalt – der latenten oder der manifesten Gewalt, das ist egal.
Gewalt gegen Menschen, Gewalt gegen Tiere. Wenn ich von Tierversuchen höre, muß ich an die Methoden denken, mit denen sie durchgeführt werden. Bei den Pelzmänteln denke ich an die Methode des Fangeisens. Ich habe keine Beruhigung und möchte auch keine mehr. Das Entsetzliche ist entsetzlich. Jeder Versuch, darin eine höhere Weisheit oder Fügung zu sehen, ist mir zuwider. Der Trost der Religionen war eine Aufforderung an die menschliche Bestie, mit ihren Exzessen fortzufahren. Alle meine geistigen Übungen haben mich nicht heroischer gemacht. Ich bin eine wehleidige Kreatur. Selbst Nietzsche, den ich für den tiefsten Philosophen der deutschen Sprache halte, konnte mich nicht erlösen. Seine Tendenzen zur Verherrlichung der Gewalt verstoßen gegen das Dogma meiner Körperzellen.
Bevor ich zum Eigentlichen komme, muß ich noch etwas berichten. Ich hatte in meinem Privatstudium bemerkt, daß die Greueltaten der Geschichte oft einen sexuellen Reiz hatten, sowohl für die Akteure als auch für uns Heutige, wenn wir davon hören. Die Frage der Gewaltlosigkeit ist auch die Frage der Veränderung unserer eigenen psychischen Strukturen. Veränderung nicht in einem moralischen, sondern in einem substantiellen Sinn.
II.
Die überschaubare Geschichte des Menschen war eine Geschichte der Gewalt. Grausamkeit ist, wie Nietzsche sagte, die älteste Festfreude der Menschheit. Die ausgesuchten Methoden, mit denen sie ausgeübt wurde, machen eine adäquate Beschreibung unmöglich. Wer kann beschreiben, was mit einem Menschen geschieht, der gefoltert, verstümmelt oder verbrannt wird? Machen wir einen Längsschnitt durch die letzten dreitausend Jahre Geschichte oder einen Querschnitt durch alles, was heute, in diesem Augenblick, auf unserem Planeten zwischen Menschen und Menschen (und auch zwischen Menschen und Tieren) geschieht, so gibt es für das Sehvermögen des gesunden Auges eine schnelle Grenze: die Grenze des nicht mehr weiter strapazierbaren Entsetzens.
Der Versuch, das Entsetzliche am Menschen durch Moral und Religion zu überwinden, ist historisch gescheitert. Jede Bindung des Monstrums Mensch an einen Sittenkodex, eine Bibel, einen Gott brachte eine neue Blutspur, einen neuen Anreiz zur Grausamkeit, eine neue Leidenschaft des Tötens. Die Existenz eines humanitären Gottes, der unsere Geschicke zum Guten lenkt, ist – spätestens seit Auschwitz und Hiroshima – geschichtlich widerlegt (womit aber die religiöse Frage noch längst nicht in einem atheistischen Sinn beantwortet ist). Angesichts der überschaubaren Vergangenheit und angesichts der Gegenwart, angesichts einer in Ekstase geratenen Tötungstechnologie und einer sich abzeichnenden globalen Apokalypse drängt sich die Frage auf, ob in den klassischen Definitionen des “Humanen” nicht ein systematischer Fehler steckte. Ob es nicht vielmehr notwendig ist, das Phänomen Mensch gänzlich herauszuheben aus der ideologischen Sphäre humanistischer Vorstellungen, um ihm auf die Fährte zu kommen. Angesichts der fortdauernden Permanenz fortzufahren. Alle meine geistigen Übungen der Gewalt und der Vergeblichkeit aller Friedensbemühungen müssen wir ernsthaft fragen: Hat die Hoffnung auf Frieden irgendeine objektive, in der psychischen Anatomie des Menschen verankerte Chance – oder beruht sie schlicht auf einem Irrtum, einem Fehler in der Perspektive, einem Wunschdenken außerhalb der Realität?
Wir stehen in einer Situation, wo es keinen Sinn mehr hat, Fragen und Antworten an die Gewohnheiten des Geschmacks und der Moral zu binden. Wenn es noch eine Lösung des Problems gibt, dann liegt sie außerhalb unseres Geschmacks, außerhalb unserer Moral und außerhalb aller Denkgewohnheiten. Wie auch die Wirklichkeit unserer präapokalyptischen Situation und die Wirklichkeit des Menschen außerhalb unserer Vorstellungskraft liegt. Erforderlich wäre ein Mutationssprung in der Wahrnehmung und ein geistiger Perspektivenwechsel, der herausführt aus allen Vertrautheiten; ein Kappen aller emotionellen Bindungen an Vorstellungen, die sich längst als unhaltbar erwiesen haben.
Die Frage des Friedens ist noch nicht entschieden, weder positiv noch negativ. Die Extrapolation der empirischen Vergangenheit und Gegenwart deutet vielleicht auf einen baldigen, kollektiven Untergang. Aber eine dreitausendjährige Epoche des Schlachtens ist noch kein Beweis, daß es so bleiben muß. Der Mensch hat – vielleicht – noch eine andere Möglichkeit. Wo aber die Fakten mit solcher Übermacht gegen eine positive Antwort stehen, da müssen diejenigen, die trotzdem nicht aufgeben wollen, zu anderen Mitteln, anderen Ideen, anderen geistigen Konsequenzen greifen.
Die bisherigen Konzepte des Menschen und der menschlichen Gesellschaft waren de facto Konzepte zur Produktion von Gewalt. Ein ernsthaftes Plädoyer für den Frieden wäre deshalb ein Plädoyer für ein neues Konzept des Menschen und der menschlichen Gesellschaft. Wo eine ganze Menschheitsepoche von Gewalt geprägt war, da wird die Frage des Friedens zur Frage einer neuen Epoche. Der Übergang von der strukturellen Gewalt zum strukturellen Frieden wäre ein Epochenwechsel, der einem Mutationssprung in der Evolution des Menschen gleichkäme. Der bisherige Typus des Menschen müßte in einen neuen übergehen. Der Planet bekäme ein anderes Gesicht. Dies jedenfalls ist die Perspektive, die sich von selbst ergibt, wenn wir die Frage aus dem nötigen Abstand betrachten. Eine Friedensbewegung in diesem Sinn wäre dann nicht eine Widerstandsbewegung, sondern sie wäre die organisierte Vorbereitung und die Durchführung eines Epochenwechsels. Ihr Thema wäre nicht nur die Verhinderung des Schlimmsten (dies wäre allerdings ihre Voraussetzung), sondern die reale Transformation des Menschen und die konkrete Neukonzeption der menschlichen Gesellschaft bis in die Elementarbereiche der Sexualität, der Ernährung, der Forschung und der Arbeit. Fundamentalopposition verbände sich mit fundamentaler Neubildung menschlicher Werte, menschlicher Lebensformen, menschlicher Axiome. Der Totalität des drohenden Untergangs entspräche die Totalität einer neuen Bemühung, die ohne die Totalität eines Paradigmenwechsels im Denken und in der politischen Praxis nicht mehr auskäme. (Wir befinden uns in einem Gedankenexperiment, noch nicht bei der Frage, wie das realisiert werden könnte.)
III.
Es folgt jetzt ein Versuch der inhaltlichen Bestimmung einer solchen Transformation. Vorauszuschicken ist, daß – wo wir von Gewaltlosigkeit sprechen – nicht nur äußere, sondern auch innere Gewaltlosigkeit gemeint ist; nicht die physische Gewaltlosigkeit, sondern auch die psychische Gewaltlosigkeit gegenüber allen inneren Kräften des Wachstums, der Wärme und der Liebe. Wo diese innere Gewaltlosigkeit nicht gegeben ist, ist auch auf die äußere kein Verlaß. Eine Kultur, die Untertanen und Opportunisten hervorbringt, indem sie die Wachstumskräfte der Individuen schon in früher Kindheit bricht, ist immer zu explosiven Gewalttaten bereit, wie die Geschichte des christlichen Abendlandes und ganz besonders die unseres eigenen Landes beweist. Zu überwinden wäre im Sinne eines strukturellen Friedens vor allem jene immanente Doppelbödigkeit des Charakters, wo plötzlich hinter angepaßten Familienvätern KZ-Henker zum Vorschein kommen; wo sich neben der genormten Sexualität sadistische und masochistische Phantasieexzesse stauen; wo neben der zur Schau getragenen Moral der Duft des Bösen heimlich unsere Sinne trübt. Zu überwinden ist nicht nur der Exzeß, sondern die ihm zugrundeliegende psychosoziale Gesamtstruktur (wir hoffen, daß dabei eine weit erfreulichere Art des “Exzesses” durchaus gerettet werden könnte, die Erotik hatte ja noch kaum eine humane Chance).
Die Transformationsarbeit einer neuen Friedensbewegung wäre sich der Tatsache bewußt, daß Gewalt in der modernen Welt nicht ein Produkt überschüssiger, sondern ein Produkt unterdrückter und eingeengter Energien ist. Gewalt kommt aus der Enge. Ratten beißen sich, wenn man zu viele von ihnen in einen Käfig sperrt. Das Bild der Enge gilt physisch und psychisch. Zu eng sind die gesellschaftlichen Formen der Alltäglichkeit, der Kommunikation, der Liebe, der Arbeit, der Forschung. Zu eng sind die gebügelten Umgangsformen unserer Hochglanzkultur, um das Phänomen Mensch in seiner ganzen Bandbreite in sich aufzunehmen. Zu viel Tierisches, zu viel Menschliches und zu viel Göttliches muß dabei verdrängt, versteckt und verleugnet werden. Zu eng sind die geistigen Orientierungen, um sich von den alltäglichen Sorgen erheben und ganz ins Freie blicken zu können. Zu eng ist die Moral, um unsere Trieb und Lebenspotentiale zu ihrem schöpferischen Ausdruck kommen zu lassen. Asozial und gewalttätig sucht das Verdrängte seinen Ausweg. Besinnungslos und mit Gewalt versucht der bedrängte Organismus, die Enge eines Konflikts zu sprengen, der nach keiner Seite hin lösbar ist. Gewalt ist meistens die Eruption blockierter Lebensenergien. Glaubhaft wäre deshalb nur eine Humanität ohne Verdrängung. Das hieße zum Beispiel: eine sexuelle Humanität ohne Verdrängung der aggressiven und “perversen” Elemente; eine Ästhetik ohne Verdrängung der Dissonanzen; ein Frieden ohne Verdrängung der Aggressionen.
Die Transformation des Systems der strukturellen Gewalt in ein System des strukturellen Friedens vollzöge sich auf allen Ebenen der menschlich-gesellschaftlichen Existenz. Sie erforderte den Aufbau andersartiger ökonomischer und politischer Systeme; sie erforderte eine fundamentale Neugestaltung menschlicher Elementarbereiche der Geschlechterbeziehung, der Kindererziehung und der Gemeinschaftsbildung; und sie erforderte ein neues geistiges Rüstzeug, welches in der Lage wäre, die Wertorientierungen, die eingefleischten Programme und die Axiome der patriarchalen Epoche radikal zu überwinden (ohne in eine matriarchale zurückzufallen). Die transformation hätte u.a. folgende Postulate zu erfüllen, die wir bei dem heute zur Verfügung stehenden wissen über menschliche Vorgänge als “Parameter einer gewaltfreien Gesellschaft” bezeichnen können:
1. Entwicklung eines ethischen Standpunkts jenseits der (bisherigen) Moral.
Indem die herkömmliche Moral das “Böse” und die Triebe zu unterdrücken versuchte, erreichte sie das Gegenteil: die Verselbständigung asozialer Strukturen in den verdrängten Zonen des Charakters. Auf diese Weise schuf sie fortwährend das Böse, das sie bekämpfte. Jede Unterdrückung erzeugt strukturelle Gewalt. Der Unterdrückungsgedanke selbst, auch wo er sich gegen das Böse richtet, gehört zu dem Paradigmen der gewalttätigen Epoche. Er ist zu ersetzen durch einen neuen Gedanken aus dem Ideenkreis “Integration – Selbstorganisation – Synthese”. Eine gewaltfreie Humanität verlagerte sich vom Begriffsfeld der Moral zu den Begriffsfeldern Identität, Bewußtsein, Entwicklung.
2. Volle Integration aller psychischen Energien und Triebenergien in die individuelle und gesellschaftliche Lebensgestaltung.
Überwindung der charakterlichen Doppelbödigkeit und der Teilung des Menschen in eine offizielle und eine versteckte Person. Aufbau von Tätigkeitsfeldern und sozialen Verhaltensmustern, worin sich die verdrängten Energien in positive Gestaltungskräfte transformieren können. Der wirkliche Individuationsprozeß, die Annahme des eigenen “Schattens”, muß nicht nur auf der therapeutischen, sondern auf der gesamten zwischenmenschlichen und sozialen Ebene vollzogen werden können.
3. Neue soziale Formen für Liebe und Sexualität.
Befreiung der Geschlechterliebe aus den zu engen und zu starren Formen der Ehe und Familie. Freie Gestaltung des sexuellen Lebens nach den autonomen Funktionsprinzipien der Erotik und nach der autonomen Ethik der Beteiligten. Ein Kernthema der gewalttätigen Gesellschaft ist das Thema der unbewältigten Liebe und Liebessehnsucht. Vielleicht erzeugt dieses Thema heute mehr Gewalt, Kindesmißhandlungen und Verkehrstote als alle anderen Faktoren zusammen. Die Transformationsarbeit hätte hier folgende Aufgaben: Entwicklung eines eindeutigen, positiven und weichen Verhältnisses zu allen sinnlichen und kreatürlichen Betätigungen des Menschentiers; Überwindung der Ehegrenzen durch den Aufbau größerer Systeme von personalen Beziehungen und interessierter Kommunikation; Abbau von Verlustangst und Eifersucht durch eine allgemeine Bereicherung der Beziehungen und Tätigkeiten; Aufbau kommunitärer Versorgungsysteme zur Überwindung sozialer und ökonomischer Abhängigkeiten.
4. Neue soziale und emotionelle Strukturen für das Aufwachsen der Kinder.
Die bestehenden Gewaltpotentiale werden meist schon in früher Kindheit angelegt. Die familiäre Situation ist zu eng, zu launisch und zu überlastet, um dem Kind eine freie Entwicklung zu ermöglichen. Die emotionelle Verknotung von Liebe, Verlustangst und Haß, die fast jede spätere Liebesbeziehung kennzeichnet, ist u.a. eine Folge der kleinfamiliären Situation. Als psychische Dauerstruktur ist sie eine der wesentlichen Grundlagen struktureller Gewalt. Die Enttäuschung kindlichen Vertrauens ist oft das Urtrauma, welches die Dispositionen schafft zu allen späteren Formen der Rache, des Zynismus und der erbarmungslosen Brutalität. Die Familienstrukturen wären aufzuheben durch die Bildung kommunitärer Systeme, die dem Kind mehr wirkliche Zuwendung, stabilere Nester, freie Partnerwahl und eine entlastetere Mutter bieten könnten.
5. Ökologische Gesamtintegration der menschlichen Lebenssphäre in die Biosphäre.
Reintegration des menschlichen Lebens in die “weichen” Strukturen und Funktionszusammenhänge des Lebendigen. Convivale Organisation der Lebenssphären von Pflanzen, Tieren, Kindern und Erwachsenen. Ersetzung von biologischen und geistigen Monokulturen durch ökologische Vielfalt. Schaffung von sich gegenseitig ergänzenden und unterstützenden Systemen im Sinne der Permakultur und ihre Übertragung in den sozialen Bereich. Ersetzung des alten Typs von Naturbeherrschung durch einen neuen Typ der Kooperation mit der Natur. Entwicklung einer auf Kontakt basierenden selbstverständlichenEthik gegenüber allen Mitgeschöpfen.
6. Kategoriale Veränderung des Denksystems.
Konkrete Entwicklung neuer geistiger Strukturen und Axiome gemäß der Funktionslogik des Lebendigen. Abkehr von den “männlichen” Programmen der Härte, der Eindeutigkeit, der Zweckmäßigkeit, der Selbstunterdrückung und des Weges ohne Umweg. Hinwendung zu den biologischen Prinzipien der “weichen Kraft”, der Integration und Überlagerung, des Tastens und Kreiselns, der funktionellen Gegensätzlichkeit, der Pulsation, Schwingung und Resonanz, der Entwicklung und der Systemoffenheit, der Komplexität und der dialektischen Verquickung des Teiles mit dem Ganzen. Kategoriale Veränderung auch des politischen Denkens im Sinne der weichen Kraft, des Aikido, der Homöopathie und der Resonanz. Eine zunehmende Angstfreiheit und eine zunehmende Erfahrung der weichen Kraft könnte zu einer neuen Art von Religiosität führen, der nicht mehr die alten Züge von Ernst, Scheinheiligkeit und Zwang anhaften.
IV.
Dies waren Thesen zu dem, was notwendig wäre, nicht zur Frage der Realisierbarkeit. Die genannten Punkte verlangen alle den Aufbau neuer Systeme für menschliche Kommunikation und Gemeinschaft. Zur Realisierung einer derartigen Kulturtransformation wären bei den Beteiligten Basisentscheidungen von persönlich-existentieller Art erforderlich, die in heftigem Gegensatz stünden zu den eingefleischten Lebens- und Denkgewohnheiten. – Ob ein solcher “Paradigmenwechsel des persönlichen Lebens” bei einer genügenden Anzahl von Menschen in der noch verbleibenden Zeit möglich ist und ob er zu einer globalen politischen Kraft werden könnte, mag bezweifelt werden. Ansätze dazu sind vorhanden. Vielleicht gibt es berechtigte Hoffnungen von neuer Art. Die Veränderungen im Kräftesystem unserer Zeit unterliegen nicht mehr politischen Kalkulationen alten Typs, sondern den spezifischen Funktionen und Sprüngen einer sich in qualitativem Umschlag befindlichen Gesamtsituation. Die fermentartige Wirkung einer gewaltfreien Kraft könnte von überraschender Effizienz sein, wenn sie verbunden wäre mit dem Durchbruch einer überzeugenden Zukunftsvision und einer neuen menschlichen Identität.
Dr. Dieter Duhm (geb. 1942) ist Psychoanalytiker, Soziologe, Kunsthistoriker und Autor. Er war einer der geistigen Köpfe der “Neuen Linken” während der 68er Studentenrevolution in Deutschland, wo er u.a. mit seinem Bestseller “Angst im Kapitalismus” bekannt wurde. Später verließ er die dogmatische Linke und gründete mit anderen Pionieren 1978 ein umfassendes Lebensexperiment für die Forschung einer gewaltfreien Zukunftsgesellschaft. Der Aufsatz “Gewaltlosigkeit. Versuch einer Antwort” entstand in den Gründerjahren des Projekts. Die darin beschriebenen Postulate bildeten die Grundlage einer inzwischen vierzigjährigen Forschungsarbeit am Aufbau von Zukunftsmodellen und Vertrauensgemeinschaften. Dieter Duhm entwickelte auf der Grundlage dieser Arbeit den “Plan der Heilungsbiotope”, einer auf ganzheitlichen Wissenschaften beruhenden globalen Friedensstrategie.