Für ein freies Kinderaufwachsen
Gabriele Brüggemann, Auszüge einer freien Rede (2002)
Ich beginne mit einem Zitat von Sabine Lichtenfels zu „Der Traum der Kinder“ aus dem Buch „Quellen der Liebe und des Friedens“: „Alle Kinder sind Kinder der Schöpfung. Hört die Sprache eurer Kinder und spürt ihren Traum, so wird auch eurer geweckt. Versucht nicht, eure eigene, nicht gelebte Sehnsucht durch eure Kinder zu verwirklichen. Verwirklicht sie selbst.“
Bevor ich über ein freies Kinderaufwachsen spreche, möchte ich über freie Liebe sprechen, denn beides hängt miteinander zusammen. Was ist freie Liebe? Es ist eine Lebensweise, in der man die Funktionslogik der Liebe und des Eros studiert und ihr folgt. Das System der freien Liebe beschränkt sich nicht nur auf den Kontakt zwischen Frauen und Männern, sondern es umfasst das ganze Leben, auch die Arbeit mit Kindern, einfach alles, denn man tritt in ein ganz anderes Denksystem ein. Freie Liebe ist eine Liebe ohne Angst und Kalkulation, in der man nicht mehr fragt: Wenn ich jetzt das tue, was macht dann er? Die freie Liebe ist ein offeneres System. In der Zweierbeziehung entsteht im Partner Angst, wenn ich einen anderen Mann begehre oder mich in ihn verliebe. Aus dieser Angst entsteht der Klammereffekt, noch mehr Verwicklung und so weiter. Es gibt aber einen Lebenszusammenhang, in dem keine Angst mehr entsteht, wenn sich ein Partner in jemand anders verliebt. Man muss wohl einen Vertrauensraum in einer Gemeinschaft erlebt haben, um sich das überhaupt vorstellen zu können. Ich mache gerade die Entdeckung, dass ich in der freien Liebe sowohl Partnerschaft und Intimität leben, als auch meine Freiheit behalten kann, ohne innerlich in eine Kollision zu geraten. Ich habe mich entschieden, den Weg der Partnerschaft zu gehen und trotzdem meinen sexuellen und Liebesimpulsen zu anderen Männern zu folgen. Dies ist kein Widerspruch, sondern eine frohe Botschaft.
Aufbau einer Kindergemeinschaft
Am „Platz der Kinder“ möchten wir eine Lebensweise aufbauen, in der die Kinder sowohl Freiheit als auch Intimität erleben und wo es für sie zwischen ihrer Liebesbeziehung zu den Eltern, zu anderen Erwachsenen und ihrem Kindsein keinen Widerspruch mehr gibt. Wesentlich dafür ist, dass die Kinder verschiedener Altersstufen in einer Kindergemeinschaft zusammenleben. Diese soll ihre Ausgangsbasis sein. Dort gibt es Kontinuität, Erwachsene, die immer da sind, eine stabile Heimat. Gleichzeitig ist es ein Raum, der ihre Freiheit schützen soll, vor allem vor den Beziehungen der Erwachsenen. Kinder handeln oft ganz anders, wenn sie unter sich sind. Sie können mehr und sie brauchen weniger. Das hört sofort auf, wenn Erwachsene kommen, und erst recht, wenn Eltern auftauchen. Die Erwachsenen, die am „Platz der Kinder“ arbeiten, bauen den Ort weiter auf und sorgen vor allem dafür, dass unter den Kindern Gemeinschaft entsteht, so dass sie immer weniger eingreifen müssen, immer seltener gebraucht werden. Sie haben nicht die Aufgabe, die Kinder zu beschäftigen, zu betreuen oder mit ihnen zu spielen.
Im Prinzip brauchen Kinder für den Aufbau ihrer Kindergemeinschaft die gleichen Dinge wie die Erwachsenen für den Gemeinschaftsaufbau. Deshalb sollten am „Platz der Kinder“ vor allem Menschen arbeiten, die bereits ein Wissen im Gemeinschaftsaufbau haben. Man braucht dafür keine pädagogische, sondern eine menschliche Ausbildung – in Gruppenleitung und vor allem in der Liebe. So wie Erwachsene in der Liebe handeln, so handeln sie auch bei den Kindern. So, wie wir in der Liebe lernen müssen, aus dem System von Fixierung und Besitzanspruch auszusteigen, so müssen wir es auch bei den Kindern lernen. Wenn ich selber in einem Liebessystem lebe, das in mir Verlustangst auslöst, werde ich immer versuchen, die Kinder an mich zu binden und dadurch auch in ihnen Verlustangst auslösen. Innerhalb des „Platzes der Kinder“ gibt es einen Bereich, in dem die Kinder ganz unter sich sein können. Dort gehen Erwachsene nur dann hin, wenn sie etwas Bestimmtes mit ihnen vorhaben. Dieser Bereich umfasst die Wohnplätze der Kinder, ihre Küche, den Töpferplatz und den Kunstplatz. Geplant ist ein Platz für Akrobatik, Sport und Theater. In diesem Kinderbereich finden auch ihre Treffen statt, ihre Foren und Plenen. Wir haben dieses Konzept während eines Workcamps ausprobiert, und ich bin erstaunt, wie gut es gelungen ist. Während die Erwachsenen Forum und “geistige Stunde” hatten, waren die Kinder alleine in ihrem Bereich. Sie können natürlich jederzeit kommen, aber sie sind fast nie gekommen und brauchten uns fast nicht. Für den Aufbau der Kindergemeinschaft braucht es – genauso wie für Erwachsene – Räume des Vertrauens. Das ist für uns hier oft das Forum, in dem man die Wahrheit sagen kann, ohne zu emotional oder persönlich zu werden. Kinder brauchen außerdem große Ziele und richtige Herausforderungen, an denen sie wachsen können.
Während der Foren entdecke ich immer mehr, dass Kinder sich wünschen, die Dinge geistig erklärt zu bekommen. Und sie sind – anders als Erwachsene – fast nie verurteilend. Wenn es im Forum um einen bestimmten Konflikt geht, wollen sie fast nie wissen, wer eigentlich Schuld ist, sondern wie es weitergeht und wie man es lösen kann. Sie denken lösungsorientiert und sind kein bisschen nachtragend.
Lässt man es zu, sind sie auch sehr frei von psychischem Leiden. Wenn zum Beispiel kleine Kinder hinfallen, ist es ein himmelweiter Unterschied, ob sie Erwachsene in der Nähe sehen oder ob sie glauben, alleine zu sein. Wenn sie sich nicht beobachtet fühlen, dann fallen sie hin, stehen auf, fallen wieder hin, stehen wieder auf usw., und all das läuft völlig ohne Leiden ab.
Zur Zeit haben wir am „Platz der Kinder“ ganz klare Regeln für alle Kinder, die da leben möchten. Noch sind es ganz einfache Regeln, die aber später erweitert werden, je mehr die Kinder diese Regeln einhalten können. Kinder finden Regeln nicht schlimm, sondern sind meistens stolz, wenn sie sie einhalten können. Zu den Regeln gehört, dass man nicht einfach aus der Kindergemeinschaft oder vom Platz weggeht, ohne Bescheid zu geben. Das gilt vor allem in Situationen, in denen man z.B. einen Streit gehabt hat. Man kann sich dann zurückziehen, aber man geht nicht einfach weg, ohne die anderen wissen zu lassen, wo man ist. Oder man redet nicht ins Forum hinein, wenn jemand anders in der Mitte ist, auch wenn man noch etwas Wichtigeres zu sagen hat. Man wartet und hört erst mal zu, was die anderen sagen. An den verschiedenen Plätzen für die verschiedenen Altersgruppen gibt es dann noch spezielle Regeln. Die älteren Kinder gehen nicht einfach so zum Platz für die Babys. Und so gibt es verschiedene Regeln, die vor allen Dingen dem Gemeinschaftsaufbau dienen.
Kinder als Lehrer für die Liebe
Noch eine Aussage aus den Morgenandachten von Sabine Lichtenfels: „Möglicherweise findet ihr in euren Kindern eure kosmischen Begleiter und Lehrer wieder.“ Kinder sind für uns immer wieder Lehrer in der Liebe. Vor allem die kleinen Kinder sind von sich aus erst einmal frei liebende Wesen, die ihre Freude und ihre Liebe sehr offen zeigen. Wenn ich zum „Platz der Kinder“ komme, rennt mir die Jackie oft mit offenen Armen entgegen und schreit: „Gabi, Gabi!“ und freut sich. Sie fragt sich nicht vorher: Was bekomme ich zurück? Freut sich die Gabi auch auf mich? Darf ich das jetzt tun? Sie drückt ihren Liebesimpuls frei aus. Sie kalkuliert nicht. In anderen Momenten sagt sie überhaupt nichts, weil sie mit etwas ganz anderem beschäftigt ist. Auch da kalkuliert sie nicht und fragt sich: Muss ich jetzt die Gabi begrüßen, weil ich sie ja gestern begrüßt habe? Beim nächsten Mal läuft sie an mir vorbei und begrüßt den Oskar. Auch da fragt sie sich nicht, ob ich jetzt vielleicht beleidigt bin. Diese Freiheit liebe ich an den Kindern. In diesen Momenten leben sie die freie Liebe. Meine Übung als Erwachsener ist es, an diesen Stellen nicht beleidigt zu reagieren, auch nicht innerlich, und ihnen nicht irgendwelche Liebesbeweise abzulocken, indem ich ihre Aufmerksamkeit fordere. Wir Erwachsenen müssen verstehen, was da passiert, und den Kindern den Freiraum und das Gefühl geben, dass dies richtig und erlaubt ist. Dies sind die Liebesimpulse, die die Kinder nicht abhängig machen. Am „Platz der Kinder“ sollen sie einen Schutzraum erhalten, in dem sie die freie Wahl in der Liebe üben können. Und das tun sie auch. Sie suchen sich immer wieder andere Erwachsene aus, die im Moment ihre geliebten Bezugspersonen sind, wenn man es zulässt. Die Information, ob sie so frei lieben dürfen oder nicht, wird von den Kindern auf einer sehr feinstofflichen Ebene aufgenommen. Die Verbindung zwischen Kindern und Erwachsenen ist ebenso feinstofflich wie zwischen Liebenden. Da kommt es nicht nur darauf an, was man sagt, sondern viel mehr, wie man innerlich denkt und fühlt. Ich kann zu meinem Liebespartner zwar oft sagen: „Gehe ruhig zu einer anderen!“, doch wenn ich dabei innerlich nicht einverstanden bin, merkt er das genau.
Ich möchte für diesen feinstofflichen Bereich ein paar Beispiele geben. Wencke ist 1 1/2 Jahre alt und seit einigen Monaten recht problemlos in der Kindergemeinschaft. Als ihre Mama dann einen Pferdekurs leitete, ist die Wencke noch mal speziell aufgeblüht. Sie spürte, dass ihre Mama selber voll ausgefüllt war, und es entstand eine tiefere Freiheit in ihr, die pures Glück in ihr erzeugte. Wenn ihre Mama abends kam, hat sie sich riesig gefreut, obwohl sie sie nicht vermisst hat. Man muss niemanden vermissen, um sich auf ihn freuen zu können. Man muss auch niemanden brauchen, um sich auf ihn freuen zu können. Tagsüber genoss sie das Glück der Freiheit und abends das Glück der Intimität. Wir Erwachsenen sind also herausgefordert, uns selber ein intensives, spannendes Leben zu kreieren, damit wir unsere Kinder und auch unsere Liebespartner freigeben können. Wenn ich Jackie mittags aus dem Garten abhole, fragt sie mich jedes Mal: „Wohin fahren wir?“ Ich sage dann: „Wir fahren zum Platz der Kinder.“ Dann jubelt sie: „Ja, zum Platz der Kinder, zum Platz der Kinder!“ Und das macht sie jeden Tag. Wenn Jackies Papa bei uns vorbeikommt, nicht, um sie abzuholen, sondern um etwas anderes zu tun, dann freut sie sich riesig und fragt: „Bleibst du hier?“ Er sagte: „Nein, ich gehe wieder!“ Und sie: „Tschüss Papa.“ Und das war es. Wenn ein Kind sich richtig freut, den Papa zu sehen, heißt das nicht unbedingt, dass es ihn öfter braucht und ihn vermisst, sondern einfach, dass es sich so freuen kann, weil es gerade glücklich ist.
Kinder sind oft echte Helferkräfte für die Erwachsenen und Toröffner des Herzens. Es geht in dem Kontakt zwischen Kindern und Eltern also um eine echte Liebesaffäre, die wir ja auch wie eine Liebesaffäre hüten lernen könnten. Damit die Liebe erhalten bleibt, braucht man zum Beispiel die richtige Nähe und Distanz, die richtige Form von Intimität. Die Intimität, die ein Kind sucht, hat weniger damit zu tun, wie oft es mit den Eltern zusammen ist, sondern viel mehr damit, ob die Eltern wirklich frei sind für das Kind. Wenn die Eltern zu sehr mit eigenen Liebeskonflikten beschäftigt sind, werden sie nicht frei sein können für den Kontakt mit ihrem Kind. Auch in einer Liebesbeziehung zwischen Erwachsenen entsteht die Intimität nicht dadurch, dass man möglichst viel zusammen ist, sondern durch einen freien Kontakt zwischen zwei Wesen. Ein Kind, das frei lieben darf und merkt, dass seine Eltern für es da sind, braucht sie immer seltener. Wenn ich meinen Liebespartner darin unterstütze, frei zu werden und auch zu anderen Frauen zu gehen, wird er sicher häufiger losziehen. Dort liegt ja unsere Angst. Deshalb lassen wir auch die Kinder oft nicht ganz frei. Dass die Kinder losziehen, heißt aber nicht, dass die Liebe weniger wird, sondern sie wird wahrheitsgemäßer, freier und erfüllender für beide Seiten.
Zum Schluss möchte ich jetzt noch ein Gedicht vorlesen, was mir gefällt, weil es diesen Klang der Freiheit hat. Es ist von Hans Herbert Reiske und heißt „Gedicht zur Kindheit“:
Man sollte Kinder lehren, ohne Netz auf einem Seil zu tanzen.
Bei Nacht allein unter freiem Himmel zu schlafen.
Man sollte sie lehren, sich Luftschlösser statt Eigenheime zu erträumen.
Nirgendwo sonst als nur im Leben Zuhause zu sein und in sich selbst Geborgenheit zu finden.