Das Problem Demokratie
Dieter Duhm, 1981
Demokratie – gibt es irgendwo fundierte Gedanken über die Bedeutung dieses Wortes und die Realisierbarkeit seines Inhalts? Wollen die Menschen, die »Demokratie« sagen, Demokratie oder wollen sie in Wirklichkeit etwas ganz anderes? Viele von denen, die Anhänger eines Gurus geworden sind, kamen aus linken und alternativen Gruppierungen, wo es selbstverständlich war, von Demokratie zu reden. Die zwei Bewegungen, die in den 70er Jahren Furore gemacht haben – AAO und Poona – hatten in ihrem Mittelpunkt eine hervorstechende charismatische Führungsfigur. Überblickt man das gesamte Szenarium alternativer Lebensprojekte einschließlich der großen amerikanischen Kommunen in den letzten 200 Jahren, so erhält man eine Bilanz, die zu denken gibt: funktioniert hat bisher über längere Dauer der charismatische Gemeinschaftstyp, nicht der demokratische.
Das politische Ideal scheitert wie immer an der psychischen Realität. Das Eltern-Kind-Verhältnis ist nirgends überwunden. Die Erwachsenen sind nicht erwachsen. Die Menschen sind sensibel geworden gegen soziale und politische Unterdrückungsverhältnisse, sie wehren sich gegen Bevormundung und autoritäre Strukturen und glauben deshalb, sie wünschten die Demokratie. Aber in Wahrheit (in der Wirklichkeit ihrer seelischen Vorgänge) wehren sich die meisten gegen Autoritäten aus genau demselben Grund, aus dem sie hemmungslos ihren Führer verehren, wenn sie einen geeigneten gefunden haben: sie sind psychisch an die Autorität fixiert, in der Angst und im Hass ebenso wie in der Liebe. Man bedenke doch, wieviel kindliche Liebessehnsucht, wieviel Neigung zu Verehrung und Anhimmelung in der Kindheit nicht ausgelebt werden konnten, weil die Erwachsenen nichts taugten – und welche Riesenmasse von latenter Sehnsucht deshalb immer noch auf Abruf wartet! Und dann begegnet man einer Gestalt, die mit einem Mal dieser Sehnsucht grünes Licht gibt, weil sie die große positive Mutter- oder Vaterfigur darstellt, auf die das versteckte Kind alle positiven Dinge projizieren kann. Auf diese Weise kommen wahre Erweckungserlebnisse zustande. Erweckt wird die stärkste Kraft im Menschen, die Liebe. So stark ist die libidinöse Erschütterung, daß sie tatsächlich das Leben verändert. Man muß es miterlebt haben, wie in der Buddha-Hall in Poona fünftausend Sannyasins Bhagwans Geburtstag gefeiert haben. Ja, es war wie in einem riesigen Kindergarten, aber es war ein Fest strömender Liebe, Verehrung und Dankbarkeit, wie der etablierte Westmensch es sich schlichtweg nicht vorstellen kann. Gegenüber solchen Vulkanausbrüchen von emotioneller Kraft und Identität (!) hat jede intellektuelle Nörgelei zu schweigen. Das ist das Leben, das ist, jedenfalls im Moment noch, die Wahrheit der allgemeinen psychischen Strukturen, das ist die wirkliche Sehnsucht der allermeisten Menschen!
Die Losungsworte für eine bessere Welt – Demokratie, Gleichberechtigung, Gewaltlosigkeit und soziale Gerechtigkeit – kamen bisher fast immer aus der Not und dem Ressentiment, nicht aus einer durchdachten, positiven Überzeugung. Das ist der tiefere Grund für ihre Erfolglosigkeit. Sie hatten mit den wirklichen psychischen Strukturen, Problemen und Sehnsüchten der Beteiligten gar nichts zu tun. Wilhelm Reich hat vor fünfzig Jahren in seiner Schrift »Was ist Klassenbewusstsein?« auf dieses Dilemma hingewiesen. Viel hat sich daran bis heute nicht geändert.
Demokratie ist wie Gewaltlosigkeit keine Frage des verbalen Bekenntnisses und keine Frage der äußeren politische Form eines Systems, sondern in erster Linie eine Frage der emotionellen Verfassung und der Triebstruktur der Menschen. Unausgelebte libidinöse Bedürfnisse stehen bis heute einer freien und demokratischen Gesellschaft elementar im Wege. Der Mensch unserer Zeit ist gewöhnlich nicht von demokratischer und autonomer Struktur, sondern eher von feudalistischer. Nach wie vor sehnt er sich nach Vater, Gott und Kaiser… er möchte sie nicht mehr in der alten Weise, aber er möchte eine psychologische Entsprechung für sie. Solange eine solchen nicht sichtbar ist, weiß er nichts von seinen Neigungen, er spricht über alles Mögliche, beispielsweise über Demokratie oder gar Anarchie. Sobald eine solche Gott-Vater-Figur aber sichtbar wird, fängt er an, lebendig zu werden und alles zu vergessen, was er gestern noch verkündet hat. Ich bin viele Male Zeuge gewesen, wie kritische Intellektuelle, Marxisten, Grübler und Individualisten auf den extrem hierarchisch organisierten österreichischen Friedrichshof kamen und dort bald ihren Widerstand aufgaben – nicht weil sie durch Gehirnwäsche gebrochen wurden, wie eine idiotische Presse ihren Lesern suggerieren wollte, sondern einfach, weil sie an ihren Widerstand nicht mehr glauben konnten. Ihre wirkliche Sehnsucht war geweckt worden. Ich erinnere an das Beispiel von den beiden Wanderern, die dürstend durch die Wüste gehen…
Vielleicht versteht es jetzt der eine oder andere, wenn ich in diesem Zusammenhang lapidar sage: Unsere gegenwärtige Kultur, einschließlich der Gegenkultur, ist eine Scheinkultur. Auf der Ebene der Worte ist fast niemand mehr kompetent, weil er in Wirklichkeit etwas ganz anderes will, als er sagt. Die Leute haben Durst, aber immer noch traut sich kaum jemand zu sagen, wonach. AAO und Poona haben diesen Durst ans Licht gebracht, deshalb sind sie auf jeden Fall ernstzunehmen. Die politischen Parolen von Demokratie, Friede und Gerechtigkeit klingen dem wirklichen Leben gegenüber wie ein Gesang der Heilsarmee, wenn sie nicht psychologisch in aller Tiefe, bis in alle triebdynamischen emotionellen Kerne hinein reflektiert werden, um von dort her verwirklicht zu werden.
Ein wirklicher Humanismus braucht die Demokratie. Alles Guruwesen, alle Führerverehrung und alle auf psychischer Fixierung basierenden Organisationsformen der menschlichen Gemeinschaft mögen für die Beteiligten eine wichtige vorübergehende Lernphase sein, sie lösen aber nicht das Problem, vor dem wir stehen. Das Problem heißt: Wie schaffen wir fürs menschliche Zusammenleben eine Organisationsform und einen inneren Aufbau, die auf verallgemeinerbare und langfristig gültige Art und Weise humane Strukturen ermöglichen?
Wirkliche, selbstverantwortliche Humanität kann erst beginnen, wenn die Fixierungen überwunden sind und die Demokratie psychologisch möglich wird. Die Entwicklung der realen Demokratie wird ausgehen von der Realität, die tatsächlich vorhanden ist, also z.B. von der Tatsache, daß es in jeder Gemeinschaft so etwas wie eine natürliche Hierarchie gibt (die sich natürlich ändern kann). Bevor sich die Gemeinschaft eine bewusste Organisationsform gibt, ist sie bereits organisiert durch die unterschiedlichen menschlichen Gewichte, welche die einzelnen in ihr haben. Solche Unterschiede gehören zur Vielfalt des menschlichen Biotops. Sie dürfen nicht durch einen aufgesetzten egalitären Anspruch unterdrückt werden, sondern sie sind nutzbar zu machen für schöpferische Lernprozesse.
Basis- und Gruppendemokratie, die dem Lebendigen entspricht, basiert nicht auf egalitären Strukturen, sondern auf der optimalen Entwicklungsmöglichkeit jedes einzelnen und auf der wachsenden geistigen Autonomie der Mitglieder. Das sind hohe Worte. Sie verlangen, dass in der demokratischen Gesellschaft der Zukunft drei Dinge realisiert werden:
Erstens: die Überwindung der Kind-Elternfixierung (die den bisherigen Menschen sein Leben lang in kindlicher Abhängigkeit gegenüber Autoritäten festgehalten hat) durch neue soziale Formen des Kinderaufwachsens und neue soziale Formen der Liebe.
Zweitens: die Aufhebung aller emotionellen Verdrängungen (welche die emotionelle Entwicklung des bisherigen Menschen auf früher Stufe gestoppt und sein Erwachsenwerden verhindert haben) durch ein soziales System freier Liebe, freier Forschung und freier Arbeit.
Drittens: die Schaffung größtmöglicher sozialer Transparenz (die es dem einzelnen ermöglicht, von Kindheit an seinen sozialen Raum zu überblicken, seine jeweilige Stellung in der Gemeinschaft zu kennen und bei anliegenden Entscheidungen mitzudenken).
Demokratie kann nicht beschlossen werden. Sie kann nur entstehen und wachsen, wenn die dazu erforderlichen psychischen und sozialen Bedingungen vorhanden sind. Sie wird langsam wachsen, und die Gemeinschaft, in der sie entsteht, wird dann die Gestalt eines Kreises haben. In diesem Kreis hat jedes Element ein anderes Gewicht und eine andere Bedeutung, aber jedes hat seinen Ort und seinen Zusammenhang mit dem Ganzen.
Auszug aus dem Buch: Aufbruch zur neuen Kultur von Dieter Duhm.