50 Jahre seit 1968: Der verpasste Sozialismus
Dr. Dieter Duhm, April 2018
Radikale Kapitalismuskritik braucht Konzepte einer umfassenden Alternative. Was sind die Strukturen der nachkapitalistischen Gesellschaft? Gibt es einen realistischen Bauplan für einen planetarischen Frieden? Wir stehen an einem historischen Punkt, wo Leben und Sterben unzähliger Mitbewohner unseres Planeten von der Beantwortung dieser Frage abhängt.
Die deutsche Studentenbewegung des vorigen Jahrhunderts war Teil eines internationalen Kampfes gegen imperialistische Herrschaft und autoritäre Strukturen. Die Bewegung befand sich vor 50 Jahren auf ihrem Höhepunkt. Ich war damals ein Studentenführer im Raum Mannheim-Ludwigshafen. Ich liebte die antiautoritäre Revolte, die Solidarität auf den Straßen, die Gastfreundschaft der Genossen in allen Städten und den gemeinsamen Kampf gegen die gesellschaftliche Barbarei des bestehenden Systems. Aber glaubten die Genossen wirklich an das, was sie da riefen? „Die Macht im Staat dem Proletariat“ und ähnliche Parolen? Man wusste, wogegen, aber nicht wofür man war. Es war eine reine AntiBewegung, getragen von einer Wut, die sich bald auch gnadenlos zwischen den einzelnen linken Fraktionen auszutoben begann. Ich merkte, dass dieser Kampf unter den gegebenen psychischen Strukturen der linken Gruppen nicht zu gewinnen war.
Ein wirklicher Sozialismus muss menschlich gegründet sein. Es genügt nicht, ihn ideologisch und politisch zu propagieren, ohne die menschlichen Grundlagen zu kennen, die ihn erst möglich machen. Wie gehen wir um mit den inneren Konflikten von Sex, Liebe, Eifersucht, mit den latenten Rivalitäten und Konkurrenzkämpfen etc.? Soviel ich weiß, sind bisher fast alle sozialistischen Bewegungen an inneren menschlichen Konflikten zugrunde gegangen. Das Schlimme, das wir im Äußeren durch politische Strategien bekämpfen wollten, befand sich auch im Inneren unserer Gruppen. An die Stelle der ursprünglichen Solidarität traten ideologische Kämpfe, Kämpfe um Vorrang, Macht und Deutungshoheit, gegenseitige Verleumdungen bis zum offenen Hass. Als dann noch die ersten Demonstranten mit Stalin-Plakaten auf die Straße gingen und als die ursprüngliche Bewegung in die vielen sogenannten K-Gruppen zerbrach, spürte ich den brutalen Infantilismus der Ereignisse. Die Gewalt, die sie im Äußeren bekämpfen wollten, trugen sie in sich selbst. Damit war der Untergang der Bewegung von innen her besiegelt.
Im Begriff des Sozialismus steckt die Idee einer humanen und gerechten Gesellschaft. Die Linke scheiterte an dem Widerspruch zwischen diesem Ziel und ihrem tatsächlichen Verhalten. Die sozialistischen oder kommunistischen Strukturen, die im Äußeren aufgebaut werden sollten – das sind Strukturen von Gemeinsamkeit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität –, waren im Inneren noch gar nicht vorhanden. Es fehlte eine Vision, welche die Macht hatte, die ganz gewöhnlichen menschlichen Konflikte von Konkurrenz, Neid und Eifersucht zu überwinden. Es ging nicht mehr um humane Ziele, sondern – psychologisch gesprochen – um die ideologische Kompensation ungelöster Innenprobleme, Liebesprobleme, Angstprobleme, Machtprobleme. Ich verließ die linke Bewegung und begab mich in die Lehr- und Wanderjahre zu anderen Orten in der geistigen Metamorphose unserer Zeit. Es ging darum, für den politischen Gedanken eine tragfähige menschliche, geistige und ethische Basis zu schaffen.
Rudi Dutschke sprach im Jahr 1968 von der „Notwendigkeit einer langandauernden Kulturrevolution gerade in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern Mitteleuropas als Bedingung für die Möglichkeit einer Revolutionierung der Gesamtgesellschaft“. Vier Jahre vorher hatte er in sein Tagebuch geschrieben, Jesus Christus sei „der Welt größter Revolutionär“. Erstaunliche Aussagen. Wie eine Vorwegnahme der neuen Inhalte, welche wir heute im Sinne einer weltweiten Befreiungsbewegung aufnehmen und vertiefen müssen.
Um die Gesellschaft in einer humanen Richtung verändern zu können, brauchten wir ein gänzlich anderes Konzept, welches die Selbstveränderung der Genossen einbezog. So schrieb ich das damals viel gelesene „Mannheimer Papier“ und die Broschüre „Revolution ohne Emanzipation ist Konterrevolution“. Ich habe die Gedanken dieser Texte bis heute weitergeführt. Sie führten zum „Plan der globalen Heilungsbiotope“ und zur Vision einer neuen Zivilisation auf dieser Erde: „Terra Nova”. Im Laufe unserer 40-jährigen Gemeinschaftserfahrung entstanden einige Wahrheiten, von denen ich glaube, dass sie für jede humane Bewegung von grundlegender Bedeutung sind.
Es wird auf der Erde keinen Frieden geben, solange in uns selbst, zum Beispiel in unseren Liebesbeziehungen, Krieg ist. Wir können im Äußeren nur so viel Frieden erreichen, wie wir im Inneren verwirklicht haben. Für jede Friedensarbeit ist es deshalb wichtig, dass wir die Bilder für einen umfassenden Frieden überhaupt zu sehen beginnen. Wir sind herausgefordert, die Bilder unserer wahren Sehnsucht, die latent in unserer Seele schwingen, wieder ernst zu nehmen und zu wirksamen Ikonen werden zu lassen. Dazu gehören auch Bilder aus den Bereichen von Liebe, Sexualität, Gemeinschaft und Religion, Bilder einer neuen Ethik für den Umgang untereinander, für die weltweite Kooperation mit anderen Gruppen, für das Zusammenleben mit der Tierwelt und schließlich für unsere eigene Bestimmung und Zielgestalt. In 40jähriger Gemeinschaftserfahrung entstand ein Projekt, das wir den „Plan der globalen Heilungsbiotope“ nennen. Ein Projekt zur globalen Vernetzung von Menschen und Gruppen, die heute unterwegs sind, um auf die globale Situation der Erde und auf ihre eigene Lebenssituation eine neue Antwort zu finden. Heute arbeiten wir weltweit mit Gruppen zusammen, wie zum Beispiel die Friedensgemeinschaft San José de Apartadó in Kolumbien, Standing Rock in den USA, das Permakulturprojekt von Tiyeda und Séda Abalah in Togo und andere mehr. Sie sind in Notgebieten tätig und wollen ihrer Arbeit eine gemeinsame Richtung geben. So entsteht langsam eine globale Bewegung u.a. mit der vom Standing Rock Sioux Tribe geprägten Losung „Defend the Sacred“ und der übergeordneten Vision von „Terra Nova“.
Gleichzeitig mit der deutschen und internationalen Studentenbewegung gab es in der Welt noch ganz andere Ansätze für eine Neuorientierung der menschlichen Gesellschaft. Könnten die vielleicht auch einen relevanten Beitrag enthalten für eine fundierte Erneuerung der menschlichen Gesellschaft? Es bildeten sich große Gemeinschaften auf ökologischer und spiritueller Grundlage. So gab es z.B. in Indien die spirituelle Gemeinschaft von Auroville, die in diesem Jahr ebenfalls ihr 50jähriges Jubiläum feiert, oder die Sannyasins in Poona. Dann die bekannten spirituellen Gemeinschaften in Findhorn (Schottland) oder Damanhur (Italien). Und last not least gab es wenig später den österreichischen Friedrichshof, wo sie versucht haben, auf ihre – einseitige – Weise mit dem Thema der Sexualität fertig zu werden. Aus großem Abstand betrachtet offenbarte sich eine Fülle von Initiativen und Bewegungen, die versuchten, das menschliche Leben aus den Krallen der kapitalistischen Welt zu befreien und einer lebenswerteren Zukunft zuzuführen. Es schien beinahe zufällig zu sein, welcher von diesen Bewegungen man gerade angehörte. Es gab noch keinen gemeinsamen Anker und kein gemeinsames Ziel.
Viele wegweisende Schwingungen waren in den Orbit eingetreten, vieles musste gesehen und bedacht werden, um zu einer realistischen Gesamtschau unserer gegenwärtigen menschheitlichen Situation zu kommen. So zog ich mich im Herbst 1976 zunächst einmal für ein halbes Jahr in einen Bauernhof in Niederbayern zurück, um über alles nachzudenken und einen sinnvollen Weg aus dem ideologischen Gestrüpp zu finden.
Auf diesem Weg ist Tamera in Portugal entstanden, eine Friedensschule und ein ganzheitliches Lebensmodell mit heute etwa 170 MitarbeiterInnen und einem wachsenden internationalen Netzwerk. Es geht dabei längst nicht mehr um eine lokale Gemeinschaft, sondern um die weltweite Grundlegung einer neuen, lebenswerten menschlichen Zivilisation.
Im Namen der Liebe zu aller Kreatur,
Dr. Dieter Duhm