“Was bedeutet Freiheit wirklich?”
One Billion Rising 2020 mit Tamera und dem Frauengefängnis von Odemira

Seit 2012 erheben sich jedes Jahr am 14. Februar zahllose Gruppen, um mit Tanz und Feierlichkeiten das Ende der Gewalt gegen Frauen und Mädchen einzufordern. Tamera nahm dieses Jahr zum siebten Mal teil. Es war eine gemeinsame Aktion mit Insassinnen des Frauengefängnisses von Odemira. Janka Striffler, Tänzerin, Mutter, Gemeinschaftsprägerin und langjährige Mitarbeiterin von Tamera, spricht über ihre Erfahrungen mit One Billion Rising und mit den Frauen aus dem Gefängnis. Seit 2013 koordiniert sie die One-Billion-Rising-Aktionen von Tamera und ist derzeit auch die Koordinatorin der Kampagne in ganz Portugal.

Janka Striffler, 17. Februar 2020

One Billion Rising (OBR) ist eine der größten Massen-Tanzaktionen der menschlichen Geschichte. Nach einer UN-Statistik wird eine von drei Frauen und Mädchen einmal in ihrem Leben geschlagen oder vergewaltigt. Das sind eine Milliarde Frauen und Mädchen! OBR wurde 2012 von der Autorin (“Vagina Monologe”), Schauspielerin und Aktivistin Eve Ensler ins Leben gerufen, um diese  massive weltweite Brutalität zu beenden. Ihr Ziel war es, an jedem 14. Februar eine Milliarde Menschen zu Tanz, Aktion, Freude zu mobilisieren. In diesem Jahr beteiligten sich Menschen aus 180 Ländern.

In Tamera machten wir zum siebten Mal mit. 2014 haben wir im Matsch vor dem Kulturzentrum getanzt. 2015 waren wir im Steinkreis von Tamera. 2017 gingen wir an den Strand von Milfontes, um für Mutter Erde zu tanzen und gegen die Pläne der Regierung, vor der Küste nach Öl zu bohren. 2018 waren wir in der Stadtmitte der Kreisstadt Odemira, zusammen mit Schülern der Schule von Colos.

“Verstärke die Vibration, erhebe dich zur Revolution”

Das Motto der Kampagne dieses Jahres ist “Verstärke die Vibration, erhebe dich zur Revolution”. In der Einladung schreibt Eve Ensler: “Die Welt befindet sich inmitten von steigendem rechten Nationalismus, weißer Vorherrschaft, Faschismus, Hass auf und Angst vor Einwanderern sowie Klimazerstörung.  Was wir tun können ist, uns zu erinnern, dass wir viele sind und dass wir die Vibration steigern können: durch Aktion, Kunst, Verbindung, Vorstellungskraft und Liebe.

Darum öffnen wir die Grenzen unserer Herzen, wenn der Staat Mauern, Gefangenenlager und Flüchtlingscamps baut. Darum streben wir danach, alle in unseren Widerstand einzubeziehen, wenn der Staat uns immer mehr voneinander teilt und trennt. Darum widmen wir uns der Entwicklung von Vertrauen und Solidarität. Denn dieses Band, wenn es einmal stabil ist, wird zu unseren Flügeln. Darum bewegen wir unsere Körper, damit die Freiheit und die Energie, die wir frei schütteln, eine neue Zukunft bringt. Darum sehen, schätzen, pflegen, respektieren und schützen wir unsere Mutter Erde, denn wir sind nicht von ihr getrennt. Ihr Leben ist unser Leben.”

Diesem Aufruf sind wir gefolgt und gestalteten dieses Jahr eine gemeinsame Aktion mit Insassinnen des Frauengefängnisses Odemira. Das Gefängnis beherbergt derzeit 55 Frauen. Die jüngste ist so alt wie meine Tochter: 23 Jahre, und die älteste 67. Sie haben die Möglichkeit, an Workshops und Aktivitäten teilzunehmen; und ich fühle mich geehrt, dass ich mit ihnen die Tanz-Choreographie einstudieren und gemeinsam Council abhalten durfte.

Die erstaunliche Wirkung von Tanz und vom Sitzen im Kreis

Das erste Mal hörte ich von One Billion Rising in einer Präsentation in Tamera, in der die kanadische Aktivistin und Freundin Magalie Bonneau-Marcil ein kurzes Video zeigte. Das zeigte Frauen, die in ein kalifornisches Frauengefängnis gingen und mit den Häftlingen die Choreographie “Break the Chain” tanzten. Mein Herz wurde sehr mitfühlend für diese Arbeit und ich wusste: “Das ist es, was ich am liebsten tun würde!” Dies war das Stück, das in meiner früheren Tanzkarriere gefehlt hatte. Ich hatte damals aufgehört, weil ich dachte, dass Tanzen nichts auf der Welt verändert. Aber als ich dieses Video sah, wusste ich plötzlich, welche politische Wirkung Tanzen haben kann. Das fehlende Glied, das ich fand, war One Billion Rising, denn Eve Ensler rief zur Revolution auf – nicht durch Marschieren und Protestieren, sondern durch Tanzen auf der Straße, durch Bewegung des Körpers, durch Freude, Erotik, Zusammensein. Diese Berufung verband meine Leidenschaft mit einer Richtung – und seitdem habe ich das Gefühl, meine Quelle angezapft zu haben. Was für ein Geschenk!

Seit November verbrachten wir, 5 Frauen unterschiedlichen Alters und Nationalität aus Tamera, jeden Freitag Zeit mit den Frauen des Odemira-Gefängnisses

Ich kann mich nicht erinnern, jemals so nervös gewesen zu sein wie vor unserem ersten Besuch. Ich hatte keine Ahnung, was passieren würde. Mein Geist spielte verrückt: “Wen werden wir treffen? Werden diese Frauen auf mich hören? Werden sie überhaupt jemandem zuhören wollen?” Nach dem Eintreten war es eine große Erleichterung, zu erkennen, dass sich diese Frauen überhaupt nicht von mir oder euch unterscheiden. Vielleicht haben sie irgendwann in ihrem Leben eine schlechte Entscheidung getroffen oder sie waren vielleicht zu arm, um ihre Rechnungen zu bezahlen – wir wissen, dass wir in einer zutiefst ungerechten Gesellschaft leben – aber im Grunde sind wir alle gleich. Ich hatte das schon vorher gewusst, aber in diesem Moment sank die Erkenntnis tiefer. Nach unserem ersten Treffen mit etwa 20 Häftlingen fragten sie uns: “Werdet ihr tatsächlich am nächsten Freitag wiederkommen? Werdet ihr euch wirklich jeden Freitag mit uns treffen?”

Ich habe die Inspiration für diese Arbeit aus den Berichten von Manitonquat, unserem verstorbenen Freund, Geschichtenerzähler und Weisheitshüter der Wampanoag-Nation, gezogen. Er brachte seinen “Weg des Kreises” in die Gefängnisse und saß mit sehr vielen Häftlingen im Kreis, hörte ihnen zu, erwies ihnen Respekt und Mitgefühl, unterstützte Heilung und Vergebung. Ein Insasse sagte ihm nach einem seiner Workshops:

“Mein ganzes Leben lang habe ich von der Liebe gehört, aber ich habe sie nie gefunden. Ich habe nicht daran geglaubt. Ich habe sie nie gefühlt, nie gesehen. Nicht in meiner Familie, der so genannten Familie, nicht auf der Straße. Viel Sex, aber Liebe? Und plötzlich sitze ich hier und höre euch allen zu und habe einen Kloß im Hals. Diese Ältesten hier, einige von ihnen kommen hundert Meilen weit, fahren stundenlang, nur um einmal pro Woche bei uns zu sein – meine Mutter macht nicht einmal das – und sie werden nicht einmal dafür bezahlt. Und das trifft mich wie ein Schlag: LIEBE EXISTIERT!”

Die Arbeit mit diesen Frauen hat sich auch wie eine Liebesaffäre angefühlt. Im Kreis zu sitzen, war ein Akt der Einheit. Von unserer lieben Freundin und globalen Partnerin Gigi Coyle habe ich viel über diese Arbeit gelernt, die sie Council nennt. Die Menschen mögen anfangs vielleicht Fremde sein, aber sobald man zusammenkommt, das Wasser segnet und in eine Schüssel in der Mitte gießt, ändert sich etwas, die Frequenz ist anders. Die Frauen im Gefängnis haben mich schließlich gefragt: “Was machst du da, Janka? Immer wenn du das tust und die Widmung sprichst, liegt etwas Magisches in der Luft. Was ist es?”

Wir sprachen über das Gefühl der Einheit, des Gebets und der Zeremonie. Wir sitzen dort und es ist still. Und ich sage euch, im Gefängnis ist es selten ruhig. Es ist so viel los, so viele Reaktionen und Spannungen, aber plötzlich, wenn wir zusammen sitzen, gibt es dieses große Gefühl der Einheit und des Zusammenseins. Nach einer Sitzung sagte eine Frau: “Ich weiß nicht, wie es kommt, aber ich fühle mich so sehr mit euch allen vereint!” Ein Dank an diese Arbeit, ein Dank an alle, die vor uns kamen, an alle unsere Ältesten, die im Kreis saßen.

Wir saßen mit Fragen zusammen wie: “Wofür erhebt ihr euch?” “Warum machst du mit?” “Was ist dir heilig?” “Was bedeutet es für dich, eine Frau zu sein?” Nachdem man jedem weiblichen Herz zugehört hat, das dort spricht, wird einem klar, dass das, was mir und ihnen heilig ist, sich sehr ähnelt. Es geht darum, zu geben und für das Leben zu sorgen. Eine Frau sagte als Antwort auf die Frage: “Was bedeutet es für dich, eine Frau zu sein: “Wasser ist Leben”.

Was bedeutet “Freiheit” wirklich?

Es war fantastisch zu sehen, wie schnell und gut sie die Choreographie aufgenommen haben. Sie wissen, dass die ganze Welt “Break the Chain” tanzt und dass sie mit diesem Tanz Teil einer globalen Bewegung sind. Diese Frauen haben eine riesige Leidenschaft und Kraft. Wenn sie die Tanzbewegungen von “Break the Chain” machen, dann merkt man: “Break the Chain” hat für sie eine echte Bedeutung. Sie haben keine Zeit zu zögern, sie müssen sich erheben und ihre Stimme erheben. Ich bin privilegiert – wenn auch nur in dem Sinne, dass ich die Freiheit habe, zu gehen, wohin ich will, und zu tun, was ich will. Aber in den letzten Wochen habe ich viel nachgedacht: “Was mache ich jeden Tag? Dient es mir, uns… der Welt?”

Man muss sich vorstellen, dass man beim Betreten des Komplexes wie auf einem Flughafen kontrolliert wird. Einmal, als wir fertig waren und gehen wollten, sagte eine Frau: “Bei euch fühle ich mich frei, obwohl ich noch immer im Gefängnis bin! Nachdem ich an diesem Tag das Gefängnis verlassen und die schweren Eisentüren hinter mir schließen hörte, stand ich da und fragte mich: “Bin ich jetzt frei? Was bedeutet ‘Freiheit’ wirklich?” In diesen eineinhalb Stunden, die wir zusammen verbrachten, war sie frei. Aber wie gehe ich als weiße privilegierte Frau damit um? Wie lebe ich es und unterstütze andere, die es leben?

Manitonquat schreibt: “Um einem Menschen zu helfen, sich zu verändern und menschlich zu werden, brauchen wir Stolz, Selbstachtung und Hoffnung – dann bin ich wirksam und produktiv, um jemandem zu seiner vollen Menschlichkeit zu verhelfen.” Das sind die Qualitäten, die ich in den letzten Wochen bei diesen Frauen habe aufsteigen sehen.

Ich bin dankbar, dass dies möglich ist. Ich bin dieser Gemeinschaft dankbar, weil wir jeden Freitag wieder zurückkehren können. Die Gemeinschaft hält uns und lehrt uns – nur durch die Gemeinschaft bin ich zu dem geworden, was ich heute bin.

Ich schließe mit einem Zitat des Mitbegründers von Tamera, Dieter Duhm, über die Revolution. Ich möchte bewusst eine männliche Stimme in den Kontext dieser Frauenbewegung stellen – um ihn und alle Männer zu ehren, die in Respekt und Unterstützung für unsere Befreiung als Frauen stehen. Er schreibt: “Wir brauchen eine Revolution, die den Geist anerkennt, die Lust und die Liebe, die Existenzberechtigung aller Mitgeschöpfe und die religiöse Sehnsucht der Menschen. Wir brauchen eine Revolution, die den Armen hilft, den Ausgebeuteten und Unterdrückten, den Kindern, den Tieren und allen Wesen, die heute so dringend unsere Hilfe brauchen.

Es geht nicht nur um einen politischen Machtwechsel, sondern es geht um eine fundamentale Umwandlung im Konzept einer humanen Zivilgesellschaft. Es geht um den Wechsel von einer mörderischen Mechanik zu einer anteilnehmenden Solidarität und Hilfe. Wir brauchen eine Revolution, nach deren Sieg es keine Verlierer gibt, weil ein Zustand erreicht wird, der allen hilft.” (Aus dem Buch “Terra Nova: Globale Revolution und die Heilung der Liebe“).

www.tamera.org